2016 11 29bz1Jahrzehntelang war der Familie Kusch in Wasbüttel unbekannt, was Urgroßmutter Anna Westedt vor 109 Jahren in ihre Kladde geschrieben hat - in Sütterlin. Vor wenigen Jahren aber besuchte Katrin Kusch einen Sütterlin-Kurs des Vereins Dorfleben - und begann zu übertragen. Nun ist klar: Es handelt sich um Aufzeichnungen, die Westedt als Hebamme im Kreis Gifhorn gemacht hat. Die Einblicke in ihre Arbeitswelt lässt heutige Hebammen staunen - und gruseln. Es sind Berichte über den Kampf um Leben und Tod.

"Mein Vater war ein Jäger und Sammler", sagt Katrin Kusch, "er hat alle alten Sachen behalten." Als sie den Sütterlin-Kurs in der Alten Schule absolviert hatte und schon mal Westedts Testament und Uropas Erbvertrag übersetzt hatte, holte ihr Vater diesen alten Koffer vom Dachboden - Anna Westedts Hebammen-Koffer. Der Deckel ist zerbrochen, die Verkleidung des Holzes abgestoßen, die Samteinlagen abgewetzt - er diente zwischenzeitlich auch mal als Schuhputzkasten. Darin lagen Lehrbücher, eine alte Abrechnung und eben besagte Kladde.

"Es war wohl ihre Prüfungsarbeit", meint Kusch. Die habe die Uroma 1907 im Herzoglichen Landes-Medizinal-Kollegium in Braunschweig mit Gut bestanden. Beschrieben sind 16 Hausgeburten, die Westedt dafür geleitet hat - in Bergfeld, Parsau, Rühen, Tiddische, Brackstedt, Ehra und Tülau, wo sie später auch tätig war. "Sie hat sehr sauber geschrieben, hatte keine Klaue."

2016 11 29bz2Aber Kusch war erschrocken: "Oh, Gott, dachte ich mir. Was machten die mit den Frauen?" Kaiserschnitte habe es damals nicht gegeben, jedenfalls nicht auf dem Land. Bei einer Geburt habe der Mutterkuchen vor dem Muttermund gelegen, Anna Westedt habe durchgreifen und das Kind an den Beinen packen müssen, schrieb sie. Trotzdem sei das Kind gestorben - wie acht weitere bei den beschriebenen Fällen. Zwei Mütter ließen ebenfalls ihr Leben. Eine von ihnen wurde noch von Bergfeld in acht Stunden mit dem Pferdewagen ins Braunschweiger Krankenhaus gebracht - zu spät. Westedt war kein Vorwurf zu machen. "Sie hat alles richtig gemacht", weiß Kusch, "wie es im Lehrbuch steht."

In der Kladde sind aber auch banalere Dinge verzeichnet: Wann hatte die Mutter ihre erste Regel? Welche Krankheiten hatte sie? Wann war die erste Kindsbewegung zu spüren? Dann wie sie die Frauen untersuchte, Herztöne abhorchte, mit heißem Wasser getränkte Handtücher auf den Bauch legte, um die Wehen zu fördern.

Nachdem Katrin Kusch in der Alten Schule berichtet hatte, was sie mit ihren frisch erworbenen Sütterlin-Kenntnissen entdeckt habe, baten sie Freundinnen, dies doch auch heutigen Hebammen zugänglich zu machen. Mittlerweile hat Kusch schon mehrere Vorträge darüber gehalten, zuletzt im Oktober beim 1. Symposium zur traditionellen Hebammenkunst in Aachen mit rund 100 Teilnehmern. "Sie haben mir gesagt, ich hätte einen Kulturschatz entdeckt." Für die Profi-Hebammen sei ihr Vortrag wie ein Film gewesen - "sie konnten jeden Handgriff nachvollziehen". Aus Celle hat Kusch nun ein Angebot bekommen Westedts Aufzeichnungen als Buch zu verfassen.

Anna Westedt hat nur bis 1924 als Hebamme gearbeitet, habe krankheitsbedingt aufgehört. Sie sei 1940 gestorben.

Aus der Braunschweiger Zeitung, Gifhorn - 29. November 2016 - Gifhorner Lokales - Seite 17, Foto: Reiner Silberstein