Wie sah das Leben um 1900 in Deutschland aus, womit beschäftigten sich die Menschen in ihrem Alltag? Die Antwort enthalten schriftliche Dokumente aus dieser Zeit, die in so manchem privaten Schrank schlummern. Werden die Blätter hervorgeholt, können viele die damals gebräuchliche Sütterlin-Schrift nicht lesen. Die geschwungenen Zeichen mit den vielen charakteristischen Schnörkeln haben mit den heutigen Buchstaben nicht mehr allzu viel gemeinsam. Wie gewinnbringend und zugleich unterhaltsam es sein kann, Sütterlin in einer Gruppe zu erlernen, erfahren rund zwei Dutzend Menschen regelmäßig in Wasbüttel.

Die Alte Schule ist praktisch wie geschaffen dafür, um noch einmal zum Pennäler zu werden. Unter der Leitung von Marlena Stumpf-Hotop waren die Präpositionen „im“ und „in“ die ersten Worte, die sich die Teilnehmer aneigneten. „Man musste sich die Schrift schon erarbeiten“, sagt Helga Kreisel. In kleinen Schritten ging es voran, Schreibübungen wechselten mit dem Lesen erster Texte. Nach den Treffen von November bis Februar, immer mittwochmorgens, sind die Frauen und Männer inzwischen Experten für die 1911 im Auftrag des preußischen Kultur-und Schulministeriums von Ludwig Sütterlin entwickelte Ausgangsschrift.

Das neue Wissen und Können nutzen Teilnehmer, um sich intensiv mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen. „Beeindruckt war ich von einem sehr persönlichen Briefwechsel meiner Eltern“, erzählt Britta Schliephacke. Dramatisch ist die Schilderung aus einem Hebammen-Tagebuch, das den Verlauf einer Geburt um 1907 beschreibt: „Einer stark blutenden Schwangeren wurden kurz vor der Geburt Tücher mit heißem Wasser auf den Bauch gelegt, um die Venen anzuregen“, berichtet Kathrin Kusch. Eine Vielzahl an neuen Eindrücken brachte die gemeinsame Übersetzung und Lektüre eines über 100 Jahre alten Tagebuchs mit sich. Darin findet sich beispielsweise die Episode über eine Schultüte für die Hosentasche. Aus Papier zusammengefaltet und mit wenig Inhalt, war es die Reaktion eines Elternpaares auf akute Geldnöte.

Die Gruppe, die das Schreiben von Sütterlin auch schon mit Gänsefedern und Tintenfass erprobt hat, wird den Umgang mit der historischen Schrift voraussichtlich im Herbst in der Alten Schule fortsetzen.

 

Aus der Beilage „Samtgemeinde Isenbüttel“ der Allerzeitung, Ausgabe Mai 2014